Ein Befehl, dem gehorcht werden muss - Autobiografie - Sun Myung Moon - Mein Leben für den Weltfrieden

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- Kapitel 2 - Ein Fluss von Tränen fliesst in meinem Herzen -



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Ein Befehl, dem gehorcht werden muss


Unmittelbar nach der Befreiung befand sich unser Land in einem unbeschreiblichen Chaos. Einfachste Lebensmittel waren schwer zu bekommen, auch für Leute mit Geld. Zuhause war unser Reisvorrat zu Ende gegangen, daher machte ich mich auf den Weg nach Paekcheon, eine Gemeinde in der Hwanghae-Provinz nördlich von Seoul etwas südlich des 38. Breitengrades, um Reis, der schon vorher gekauft worden war, abzuholen. Auf dem Weg dorthin erhielt ich jedoch eine Offenbarung, die besagte: „Überquere den 38. Breitengrad! Finde die Menschen Gottes, die im Norden leben.“ Ich überquerte unverzüglich den 38. Breitengrad und ging nach Pyeongyang.


Es war nur einen Monat her, seit unser erster Sohn geboren worden war. Ich war besorgt um meine Frau. Ich wusste, sie würde mit großer Sorge auf mich warten. Aber es gab keine Zeit mehr für mich, nochmals nach Hause zu gehen, bevor ich mich auf den Weg in den Norden machte. Gottes Befehle muss man sehr ernst nehmen. Sie müssen ohne Vorbehalt und ohne Zögern befolgt werden. Ich nahm nichts mit außer der Bibel, die ich Dutzende Male gelesen und mit Unterstreichungen und persönlichen Notizen in kleinen Buchstaben, nicht größer als Sesamkörner, vollgeschrieben hatte.

Flüchtlinge strömten bereits nach Süden, um der kommunistischen Herrschaft zu entkommen. Da die kommunistische Partei die Religion ablehnte, zogen viele Christen auf der Suche nach religiöser Freiheit in den Süden. Für die Kommunisten war Religion „Opium für das Volk“. Sie bestanden darauf, dass niemand eine Religion haben durfte. Das war der Ort, zu dem ich vom Himmel gerufen wurde. Kein Pastor wollte zu einem solchen Ort gehen, aber ich ging auf meinen eigenen zwei Beinen dorthin.

Als die Zahl der Flüchtlinge in den Süden immer mehr anstieg, begann der Norden seine Grenzsicherung zu verschärfen. Es war nicht leicht für mich, den 38. Breitengrad zu überqueren. In dieser Zeit musste ich 48 Kilometer bis zur Grenze und dann bis nach Pyeongyang zu Fuß gehen. Ich habe niemals in Frage gestellt, warum ich einen solch schweren Weg gehen musste.

Am 6. Juni kam ich in Pyeongyang an. Das Christentum hatte in dieser Stadt so tiefe Wurzeln geschlagen, dass sie auch als „Jerusalem des Ostens“ bekannt war. Während der Besetzung Koreas hatten die Japaner auf verschiedenen Wegen versucht, das Christentum zu unterdrücken. Sie zwangen die Bürger, Schinto-Schreine zu verehren und sich in Richtung des kaiserlichen Palastes in Tokio, wo der Kaiser lebte, zu verbeugen. Nach der Ankunft in Pyeongyang begann ich meine Missionsarbeit im Haus von Choi Seob Rah, der im Kyeongchang- Ri-Viertel in der Nähe des Westtores von Pyeongyang lebte.

Ich fing an, mich um die Kinder in der Nachbarschaft zu kümmern. Ich erzählte ihnen Kindergeschichten zur Veranschaulichung von Bibelversen. Sie waren Kinder, aber ich sprach zu ihnen in einer höflichen Form, die normalerweise für Erwachsene bestimmt ist. Ich kümmerte mich so gut ich konnte um sie. Zur gleichen Zeit hoffte ich, dass jemand kommen würde, um die neue Botschaft zu hören, die ich weitergeben musste. Es gab Tage, an denen ich den ganzen Tag das Eingangstor beobachtete und hoffte, dass jemand kommen würde.
Bald schon kamen Menschen mit aufrichtigem Glauben, um mich zu sehen. Die ganze Nacht hindurch sprach ich zu ihnen und lehrte sie die neue Botschaft. Egal wer kam, es konnte ein dreijähriges Kind oder eine alte, blinde Frau mit gebeugtem Rücken sein, ich behandelte sie alle mit Liebe und Respekt. Ich verbeugte mich vor ihnen und diente ihnen, als ob sie vom Himmel gekommen wären. Auch wenn meine Gäste alte Männer und Frauen waren, sprach ich mit ihnen bis spät in die Nacht hinein. Niemals sagte ich mir: „Oh, ich hasse es, wenn solche alte Leute kommen.“ Jeder ist wertvoll. Ob es ein Mann oder eine Frau ist, ob jung oder alt, jeder hat denselben kostbaren Wert.

Die Menschen hörten diesem 26-jährigen jungen Mann zu, der zu ihnen über den Römerbrief und über das Buch der Offenbarung sprach. Was sie hier hörten, war anders als das, was sie andernorts gehört hatten. So versammelten sich allmählich mehr und mehr Menschen, die nach Wahrheit suchten.

Ein junger Mann kam jeden Tag und hörte mir zu, aber am Ende des Tages ging er, ohne ein Wort zu sagen. Das war Won Pil Kim. Er wurde das erste Mitglied meiner geistigen Familie. Er hatte die Pädagogische Hochschule in Pyeongyang absolviert und arbeitete als Lehrer. Wir wechselten uns ab, den Reis für die Mahlzeiten vorzubereiten. So entwickelte sich zwischen uns die Beziehung von einem geistigen Meister und seinem Jünger.

Sobald ich begann über die Bibel zu sprechen, konnte ich nicht mehr aufhören, bis Mitglieder der Gemeinschaft sich entschuldigten und sagten, sie müssten noch andere Dinge erledigen. Ich predigte mit einer solchen Leidenschaft, dass ich am ganzen Körper schwitzte. Manchmal machte ich eine Pause und ging in ein separates Zimmer, in dem ich allein war. Dort zog ich mein Hemd aus, um den Schweiß auszuwringen. Das geschah nicht nur im Sommer, sondern auch im kalten Winter; soviel Energie habe ich in mein Lehren hineingelegt.

Bei den Gottesdiensten trug jeder saubere, weiße Kleidung. Wir sangen und wiederholten dieselbe Hymne Dutzende Male und gestalteten den Gottesdienst mit großer Leidenschaft. Mitglieder der Gemeinde waren so gerührt und inspiriert, dass wir alle zu weinen begannen. Die Leute nannten uns „die weinende Kirche“. Wenn dann der Gottesdienst zu Ende war, legten unsere Mitglieder Zeugnis über den Segen ab, den sie während des Gottesdienstes erfahren hatten. Während dieser Bezeugungen fühlten wir uns wie berauscht von Gottes Gnade. Es war, als ob unsere Körper zum Himmel schwebten.

Viele Menschen in unserer Kirche hatten geistige Erlebnisse. Einige fielen in Trance, einige machten Prophezeiungen, einige sprachen in Zungen, während andere dies alles deuteten. Manchmal kam eine Person, die noch nicht unserer Kirche angehörte, in unsere Glaubensgemeinschaft. Ein Gemeindemitglied stand auf, ging mit geschlossenen Augen zu ihr und tippte ihr auf die Schulter. Da fing diese Person plötzlich an, ein tränenreiches Gebet der Reue zu sprechen. In solchen Fällen fuhr das heiße Feuer des Heiligen Geistes durch unsere Versammlung. Durch das Wirken des Heiligen Geistes wurden Menschen dann so gründlich von chronischen Krankheiten geheilt, als wären sie nie vorher krank gewesen. Es wurde erzählt, dass jemand etwas von meinem übrig gebliebenen Reis gegessen hatte und davon sein Bauchleiden geheilt worden war. Die Leute fingen an zu sagen: „Das Essen in dieser Kirche hat eine medizinische Wirkung.“ Viele Menschen begannen darauf zu warten, dass ich mit dem Essen fertig war, und hofften, von mir vielleicht übrig gelassene Reisreste essen zu können.

Als solche geistige Phänomene mehr und mehr bekannt wurden, wuchs unsere Gemeinde. Bald hatten wir so viele Menschen, dass wir die Tür nicht mehr schließen konnten. Großmutter Seung Do Ji und Großmutter Se Hyun Ok kamen zur Kirche, weil beide einen Traum hatten, in dem ihnen gesagt worden war: „Ein junger geistiger Lehrer ist aus dem Süden gekommen und lebt nun gegenüber von Mansudae (Hauptplatz in Pyeongyang). Geht hin und trefft ihn.“ Niemand missionierte sie. Sie kamen einfach zu der Adresse, die ihnen im Traum offenbart worden war. Als sie ankamen, waren sie glücklich zu sehen, dass ich die Person war, über die sie in ihren Träumen gehört hatten. Ich brauchte nur ihre Gesichter ansehen, um zu verstehen, warum sie gekommen waren. Ohne zu fragen, was sie von mir wissen wollten, beantwortete ich ihre Fragen. Sie waren außer sich vor Überraschung und Freude.

Ich lehrte das Wort Gottes durch Geschichten über meine eigenen Erfahrungen. Vielleicht fanden viele Leute unsere Gruppe deswegen so interessant, weil sie klare Antworten auf Fragen bekamen, die ihnen vorher noch nie jemand wirklich beantworten konnte. Einige Gläubige aus großen Kirchen in der Stadt konvertierten zu unserer Kirche, nachdem sie mich predigen gehört hatten. In einem Fall kamen 15 Mitglieder aus dem inneren Kreis der Jangsujae-Kirche, der prominentesten Kirche in Pyeongyang, als ganze Gruppe in unsere Kirche, was die Mitglieder des Ältestenrates jener Kirche veranlasste, heftig gegen uns zu protestieren.

Frau In Ju Kims Schwiegervater war ein sehr bekannter Kirchenältester in Pyeongyang. Das Familienhaus grenzte direkt an die Kirche, die ihr Schwiegervater besuchte. Anstatt jene Kirche zu besuchen, kam sie heimlich zu unserer Kirche. Um das Haus zu verlassen, ohne dass die Familie ihres Mannes etwas bemerkte, ging sie hinter das Haus, stieg auf einen der großen Tonkrüge und kletterte über den Zaun. Sie tat dies, obwohl sie schwanger war und der Zaun zwei bis drei Mal so hoch war wie ein normaler Mensch. Sie musste sehr mutig sein, um das zu tun. Schließlich wurde sie von ihrem Schwiegervater hart verfolgt. Ich wusste, wann das passieren würde. An Tagen, an denen ich einen starken Schmerz in meinem Herzen spürte, sandte ich einige Mitglieder zu Frau Kims Haus. Als sie vor dem Haus standen, konnten sie hören, wie sehr Frau Kim von ihrem Schwiegervater geschlagen wurde. Er schlug sie so heftig, dass sie Tränen aus Blut weinte. Später sagte sie jedoch, dass ihr Schmerz in dem Augenblick verschwand, als sie merkte, dass unsere Mitglieder draußen vor dem Tor standen und für sie beteten.

„Meister, woher wusstest du, dass ich geschlagen wurde?“, fragte sie mich später. „Wenn unsere Mitglieder vor dem Tor sind, verschwinden meine Schmerzen und mein Schwiegervater stellt fest, dass er viel mehr Energie braucht, um mich zu schlagen. Wie kann das sein?“

Die Familie ihres Mannes schlug sie und band sie sogar an einen Pfosten. Auch das konnte sie nicht aufhalten, zu unserer Kirche zu kommen. Schließlich kamen ihre Familienmitglieder in unsere Kirche und begannen mich zu schlagen. Sie zerrissen meine Kleidung und durch ihre Schläge schwoll mein Gesicht an. Ich schlug aber niemals zurück. Ich wusste, wenn ich das täte, würde die Situation für Frau Kim noch schwieriger werden.

Als mehr und mehr Menschen von den großen Kirchen rund um Pyeongyang begannen, unsere Gottesdienste zu besuchen, wurden die Pastoren dieser etablierten Kirchen eifersüchtig. Sie beklagten sich bei der Polizei über uns. Den kommunistischen Behörden war Religion ein Dorn im Auge und sie suchten nach Gründen, sie zu unterdrücken. Sofort nutzten sie die Gelegenheit, die sich durch diese Pastoren eröffnete, und nahmen mich in Haft. Am 11. August 1946 wurde ich wegen Spionage für Südkorea angeklagt und in der Dae-Dong- Sicherheitsstation inhaftiert. Ich wurde fälschlich beschuldigt, dass ich vom südkoreanischen Präsidenten Syngman Rhee in den Norden geschickt worden wäre als Teil eines Versuchs, den Norden zu übernehmen.

Sie brachten sogar einen sowjetischen Vernehmungsbeamten herbei, konnten mir aber keinerlei Verbrechen nachweisen. Nach drei Monaten erklärten sie mich schließlich für unschuldig und ließen mich frei. Mein Körper aber war in einem schrecklichen Zustand. Ich hatte durch die Folter so viel Blut verloren, dass mein Leben in ernsthafter Gefahr war. Mitglieder meiner Kirche nahmen mich bei sich auf und sorgten für mich. Sie riskierten ihr Leben für mich, ohne dass sie etwas dafür erwarteten.

Als ich mich erholt hatte, nahm ich meine Missionsarbeit erneut auf. Innerhalb eines Jahres war unsere Gemeinde recht groß geworden. Die etablierten Kirchen ließen uns nicht in Ruhe. Immer mehr Mitglieder ihrer Gemeinden besuchten unsere Gottesdienste.

Schließlich wurden etwa 80 Pastoren aktiv und schrieben Briefe an die Polizei. Am 22. Februar 1948 wurde ich erneut von den kommunistischen Behörden in Haft genommen. Ich wurde angeklagt, dass ich ein Spion für Syngman Rhee sei und die soziale Ordnung störe. Ich wurde in Handschellen abgeführt. Drei Tage später wurde mein Kopf kahlgeschoren und ich wurde in eine Gefängniszelle gesteckt. Ich erinnere mich noch genau daran, wie es sich anfühlte, als ich meine Haare, die während der Zeit meiner Kirchenleiterschaft gewachsen waren, auf den Boden hinunterfallen sah. Ich erinnere mich auch an das Gesicht dieses Mannes, Herrn Lee, der meine Haare abschnitt.

Im Gefängnis schlugen mich die Machthaber unaufhörlich und bestanden darauf, dass ich meine Verbrechen zugeben sollte. Ich hielt jedoch durch. Selbst als ich Blut erbrach und an der Schwelle des Todes zu sein schien, ließ ich es niemals zu, das Bewusstsein zu verlieren. Manchmal war der Schmerz so groß, dass ich mich zusammen krümmte. Ohne zu denken, ertappte ich mich dabei zu beten: „Gott, rette mich.“ Im nächsten Moment jedoch fasste ich mich wieder und betete mit Überzeugung: „Gott, mach Dir keine Sorgen um mich. Sun Myung Moon ist noch nicht tot. Ich lasse es nicht zu, auf eine solch elende Art zu sterben.“ Ich hatte Recht. Es war für mich noch nicht Zeit zu sterben. Es lagen Berge von Aufgaben vor mir, die ich zu erfüllen hatte. Ich hatte eine Mission. Ich war nicht jemand, der so schwach war, dass er sich durch Folter zur Aufgabe seiner Mission zwingen ließ.

Jedes Mal, wenn ich an den Folgen der Folter zusammenbrach, hielt ich durch, indem ich mir sagte: „Ich werde für das Wohl des koreanischen Volkes geschlagen. Ich vergieße Tränen, um so den Schmerz unseres Volkes zu tragen.“ Als die Folter so schwer wurde, dass sie mich an den Rand der Bewusstlosigkeit führte, hörte ich stets die Stimme Gottes. In den Augenblicken, wo mein Leben zu Ende zu gehen schien, erschien mir Gott. An meinem Körper gibt es immer noch etliche Narben, die mir damals zugefügt wurden. Das Fleisch, das aus meinem Körper herausgerissen wurde, und das Blut, das ich verlor, wurden vom Körper wieder erneuert. Aber der Schmerz jener Erfahrungen bleibt durch diese Narben bei mir. Ich habe oft auf diese Narben geschaut und dabei zu mir gesagt: „Weil du diese Narben trägst, musst du Erfolg haben.“

Mein Gerichtsprozess wurde für den 3. April angesetzt, den 40. Tag meiner Gefangenschaft. Er wurde jedoch um vier Tage verschoben. Mein Prozess fand also am 7. April statt. Viele der berühmtesten Pastoren in Nordkorea kamen in den Gerichtssaal und beschuldigten mich aller möglichen Verbrechen. Auch die kommunistische Partei verhöhnte mich und sagte, dass Religion Opium für das Volk sei. Mitglieder unserer Gemeinde standen auf einer Seite und weinten kummervoll. Sie weinten, als ob ihr Kind oder ihr Ehemann gestorben wäre.

Ich vergoss jedoch keine Träne. Ich hatte Mitglieder, die um mich so jammervoll weinten, dass sie ganz in Kummer versanken. So fühlte ich mich nicht allein, als ich mich auf dem Pfad des Himmels befand. Ich befand mich nicht in einer unglücklichen Lage und hatte das Gefühl, dass ich nicht weinen sollte. Als ich nach meiner Verurteilung das Gerichtsgebäude verließ, hob ich meine gefesselten Hände und schüttelte sie als ein Zeichen für unsere Mitglieder. Die Ketten machten ein klirrendes Geräusch, das sich für mich wie Glocken anhörte. An diesem Tag wurde ich in das Gefängnis von Pyeongyang gebracht.

Ich hatte keine Angst vor dem Gefängnisleben. Es war ja nicht so, dass dies das erste Mal für mich war. In jeder Zelle gab es eine Hierarchie unter den Gefangenen. Es war für mich sehr leicht, eine Freundschaft mit dem Gefangenen, der an der Spitze der Hierarchie stand, aufzubauen. Alles, was ich dafür tun musste, war, ein paar Worte mit ihm zu wechseln, und jeder Zellenanführer wurde schnell mein Freund. Wenn wir ein Herz voll Liebe haben, können wir jedes Herz öffnen.

Nachdem ich ein paar Tage in der Zelle gewesen war und in der entferntesten Ecke gesessen hatte, bot mir der Zellenanführer eine höhere Position an. Ich wollte in der kleinen Ecke neben der Toilette sitzen, aber er bestand darauf, dass ich eine höhere Position in der Zelle haben sollte. Wie sehr ich das auch ablehnte, er bestand darauf.

Nachdem ich mit dem Zellenanführer Freundschaft geschlossen hatte, schaute ich jede Person in der Zelle sorgfältig an. Das Gesicht eines Menschen sagt alles über ihn aus. „Oh, dein Gesicht hat diese Form, also musst du diesen Charakter haben.“ „Deine Gesichtszüge sind so, also hast du auch einen solchen Charakterzug.“

Die Gefangenen waren überrascht, wie viel ich ihnen über sie erzählen konnte, indem ich ihre Gesichtszüge las. In ihrem Innersten mochten sie es nicht, dass eine Person, die sie zum ersten Mal sahen, fähig war, so viel über sie zu erzählen. Sie mussten jedoch anerkennen, dass ich sie korrekt beschrieb. Ich war fähig, mein Herz zu öffnen und es mit jedem zu teilen. So hatte ich auch im Gefängnis Freunde. Ich wurde zum Freund eines Mörders. Es war eine ungerechte Gefangenschaft für mich, aber es war eine bedeutsame Trainingsperiode. Jede Zeit der Prüfung in dieser Welt hat ihre tiefe Bedeutung.

Im Gefängnis können sogar die Läuse zu Freunden werden. In den Zellen war es extrem kalt. Die Läuse krochen im Gänsemarsch entlang der Nähte unserer Gefängniskleidung. Wenn wir die Läuse nahmen und sie auf einen Haufen legten, hingen sie aneinander und wurden zu einer winzigen, runden Kugel. Wir rollten sie hin und her, ähnlich wie Pferdemistkäfer, die Mistkugeln rollen. Die Läuse taten alles, um zusammenzubleiben. Läuse haben die Angewohnheit, sich immer in etwas hineinzugraben. Sie steckten ihre Köpfe zusammen, so dass nur ihr Hinterteil herausragte. Wir hatten eine Menge Spaß in der Zelle, als wir das beobachteten.

Keiner mag Läuse oder Flöhe. Aber im Gefängnis werden sogar Läuse und Flöhe zu wichtigen Gesprächspartnern. In dem Moment, wenn man seine Augen auf eine Bettwanze oder einen Floh richtet, kommen einem ganz plötzlich Erkenntnisse in den Sinn und es ist wichtig, dass man sie nicht einfach vorüberziehen lässt, ohne sie zu bemerken. Wir wissen nie, wann oder in welcher Weise Gott zu uns sprechen wird. So müssen wir aufmerksam sein und sogar Insekten wie Bettwanzen und Flöhe sorgfältig beobachten.




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